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DER OBELISK

Übersetzer: Thomas Reschke

In der Nacht darauf hatte er einen Alptraum: Ein entsetzlicher Mann packt ihn am Schlips, der unheimlich lang ist - mindestens fünf Meter - und zieht ihn unerbittlich zu sich heran, wobei er wollüstig lächelt und seine furchtbaren blanken Hauer zeigte. Malyschew, halb aufgewacht, sagte stöhnend: "Marinotschka, ich hab was Grausliches geträu...", da fiel ihm ein, daß Marina nicht mehr da war, und er wachte vollends auf. Die Wohnung war still und leer. Mein Gott, dachte er, dann soll lieber der Traum weitergehen.

Er stand auf und ging in die Küche. Dort war alles so, wie Marina es zurückgelassen hatte. Ihre Lieblingstasse, die sie merkwürdigerweise nicht mitgenommen hatte, stand mitten auf dem Tablett, umgeben von kleineren Tassen. Malyschew erinnerte sich, daß Marina übermütig die größere Tasse "Napoleon" getauft und die kleineren nach dessen Marschällen benannt hatte. "Soll ich dir Tee in den Davout schenken?" hatte sie gefragt. Von dieser Erinnerung wurde ihm ganz elend, und er begriff, daß er so nicht weiterleben konnte. Er blickte auf die Uhr - halb sieben. In diesem Moment schrillte das Telefon. Marina, dachte er und riß den Hörer hoch. "Was ist los, schlaft ihr noch?" Malyschew erkannte die Stimme seines Freundes Andrej. "Andrjuscha", sagte er und fühlte einen wachsenden Kloß in der Kehle, "Marina hat mich verlassen. Gestern." - "Ach soo", sagte Andrej nach einer Pause gedehnt. "Nun hör mir mal gut zu! Du fährst jetzt sofort zum Bahnhof, setzt dich in den Zug und kommst zu mir. Den Wagen läßt du zu Hause. Und bitte keine Widerrede! Schluß. Ich erwarte dich." Im Hörer knackte es, Andrej war wieder weit weg, am andern Ende des Landes, und Malyschew blieb mit seinem Kummer allein. Ich fahre, beschloß er, vielleicht sehen wir uns zum letzten Mal.

Eine halbe Stunde später saß er bereits im Zug, der mit rasender Geschwindigkeit das Land wie einen Brotlaib in eine westliche und eine östliche Hälfte zerschnitt: Der Intercity Expreß Hamburg-München brachte ihn zu seinem Freund, dem einzigen Menschen, der seine Not und seine unausgesprochenen Gedanken sofort verstanden hatte.

Malyschew hatte Marina vor vier Jahren in Leningrad kennengelernt.

Er brachte es einfach nicht über sich, diese Stadt Sankt-Petersburg zu nennen. Wohl aus einem Protestgefühl heraus. Früher, als Leningrad noch Leningrad hieß, hatte er es freilich Piter genannt - aus Aufmüpfigkeit. Emotional und semantisch hatte Leningrad mit Lenin nichts gemein. Das Wort stand für sich.

In diesem Leningrad, in dem Malyschew geboren worden war und lebte, hatte er Marina in dem berühmten Cafe "Nord" zum erstenmal gesehen. Sie saß an einem entfernten Tischchen und ließ sich die berühmte Kreation des Cafes schmecken - Bouillon mit Blätterteigpastetchen. Mit einer eleganten Bewegung ihrer schmalen Hand ergriff sie mit zwei Fingern, deren rosa Nägel nicht sehr lang, aber gepflegt waren, das Pastetchen, führte es zum Mund und biß mit gebleckten Zähnen, um es nicht mit Lippenstift zu beschmieren, vorsichtig ein kleines Stück ab. Nachdem sie die Lippen mit der zusammengefalteten Serviette abgetupft hatte, kaute sie nachdenklich, ohne Eile, hob dann mit einer graziösen Bewegung, die bei einer anderen Frau vielleicht affektiert und lächerlich ausgesehen hätte, die kleine Porzellantasse mit der heißen Bouillon hoch, sog den aromatischen Dampf ein und trank konzentriert einen Schluck. Sie war in ihre Gedanken vertieft und lächelte ab und zu mit halbgeschlossenen Augen.

Malyschew wollte nicht, daß sie seinen Blick spürte, darum schaute er sie mit Unterbrechungen an, bemüht, sich alles einzuprägen: Die schöne Biegung ihres Rückens, die gewollt nachlässig aufgesteckten, gewellten dunklen Haare und das eigenartige Profil mit der hochgewölbten Braue und der feinen, aber recht langen Nase, die übrigens ihr Aussehen nicht beeinträchtigte, sondern ihr einen strengen und, wie er damals dachte, aristokratischen Zauber verlieh.

Unterdessen hatte sie ihr Pastetchen aufgegessen, die Bouillon getrunken und seufzte bedauernd, hob dann, nachdem sie sich mit einem Vogelblick besorgt umgeschaut hatte, rasch den Teller hoch und nahm mit der Zunge knusprige Teigschuppen und Fleischkrümel auf.

Verdammt, warum bin ich keine fünfundzwanzig mehr! dachte Malyschew, während er sie von der Seite betrachtete. Oder wenigstens fünfunddreißig. Lächerlich - ich kann doch in meinem Alter nicht einfach zu einer jungen Frau hingehen und mich vorstellen... Und warum sollte sie darauf eingehen? Und selbst wenn. Was kann ich einer so bezaubernden Frau bieten? Meine Einzimmerwohnung? Den Nachbarn Onkel Wanja, der schon die dritte Woche pausenlos säuft? Den schwindsüchtigen "Saporoshez"? Oder vielleicht mein Dozentengehalt?

Bei dem Gedanken an das Gehalt, das er schon seit mehr als vier Monaten nicht bekommen hatte, zuckte Malyschew zusammen.

Dabei sieht es mit dem Geld jetzt gar nicht so schlecht aus, ich hab die Kishi-Landschaft rechtzeitig an den Schweizer verkauft. Außerdem müßten noch ein paar Einnahmen fällig werden. Andererseits wäre es an der Zeit, Alewtina Iwanowna die Schulden zurückzuzahlen. Und ich muß mich mit dem Fernsehen entscheiden, sonst krieg ich keine Angebote mehr. Natürlich ist das reine Stümperei, aber geht’s jetzt um Kunst? Immer noch besser als malen...

"Entschuldigen Sie bitte, Sie sind doch bestimmt Leningrader?"

Malyschew tauchte aus seinem Bewußtseinsstrom auf. Vor seinem Tisch stand die Frau, die er gerade noch wohlgefällig betrachtet hatte.

"Jaaa." Vor Überraschung vergaß er, den Mund zu schließen. Und so blickte er offenen Mundes zu ihr auf.

"Wissen Sie, ich suche das Projektierungsinstitut für Transportwesen", sagte sie und blickte mit einem blassen, hilflosen Lächeln auf seinen Mund, "ich bin dienstlich hier."

Malyschew spürte plötzlich, daß unerklärliches Mitleid mit dieser Frau sein Herz beengte. Beflissen sprang er auf.

"Ja, ja, natürlich", murmelte er, " ich verstehe... Selbstverständlich, kommen Sie, ich bring Sie hin."

"Nun, das ist nicht nötig. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir einfach erklären, wie ich fahren muß."

"Aber nein, ich bitte Sie! Ich begleite Sie, sonst finden Sie nicht hin. Wissen Sie, Leningrad ist so groß. Und dann..." Er erklärte nicht, was "dann" sein würde. Vor Aufregung fand er nicht in die Ärmel.

Sie gingen hinaus auf den Newski-Prospekt.

"Wie sind Sie darauf gekommen, daß ich Leningrader bin?" Es gefiel ihm sehr, daß sie gerade dieses Wort benutzt hatte.

"Ich weiß nicht... Sie sind irgendwie typisch. Nein, nicht in dem Sinne, daß Sie wie alle sind, sondern in dem Sinne..." Sie verhedderte sich, schwieg einen Moment und fügte hinzu: "Wahrscheinlich habe ich mir einen Leningrader genauso vorgestellt."

Sie gingen nebeneinander, und Malyschew, über die eigene Dreistigkeit verblüfft, faßte sie unter. Sie nahm das als etwas völlig Normales, ihr Gebührendes auf, aber Malyschew, dessen Kühnheit mit dieser Geste erschöpft war, wurde verlegen und schwieg. So gingen sie schweigend weiter. Als sie an einem Schaufenster vorbeikamen, blickte er hinein in der Hoffnung, seine Begleiterin heimlich betrachten zu können, begegnete aber im Spiegel ihrem Blick. Sie taxiert mich, dachte er erschrocken, sie will sehen, ob wir zueinander passen.

"Mein Wagen steht gleich um die Ecke!", versuchte er ungezwungen hinzuwerfen, doch seine Stimme klang fremd und gekünstelt. Die Frau blickte ihn respektvoll an. Da schämte er sich für seine Kinderei.

"Na ja", fuhr er in ganz anderem Ton fort, "ein alter Saporoshez. Natürlich nur, wenn Sie ihn nicht verschmähen."

Er führte sie zum Auto, lief voraus, öffnete die Tür und half ihr hinein. Als er sich herabbeugte, nahm er den schwachen Duft eines sehr guten, offenbar französischen Parfüms wahr. Eine Blume im Staub, dachte er, als er um den Wagen ging und durch die schmutzige Windschutzscheibe auf seinen unverhofften Gast schaute.

"Übrigens heiße ich Alexander... Sascha", stellte er sich vor (wieso "übrigens"? Ich verblöde zusehends).

"Marina", antwortete die Frau kurz.

Sie fanden das Institut, und Malyschew wartete in dem vollgespuckten Raucherzimmer, bis Marina ihre Lauferei von Büro zu Büro beendet hatte. Dann fuhren sie lange durch Leningrad auf der Suche nach einem ominösen Pjotr Issaakowitsch, ohne dessen Unterschrift nichts lief. Danach fuhren sie zu einem Laboratorium, das seltsamerweise in einer Rennbahn untergebracht war.

Während der Fahrt von einer Stelle zur anderen redeten sie pausenlos, in dem Wunsch, so viel wie möglich übereinander in Erfahrung zu bringen. So erfuhr Malyschew, daß Marina aus Saratow kam, genauer, aus Engels. Er war vor vielen Jahren einmal in dieser Stadt gewesen und erinnerte sich nur noch an unvorstellbaren Dreck und an sehr leckere Buletten auf Kiewer Art, die er im Restaurant des Hotels "Wolga" gegessen hatte. Marina erzählte, sie sei zum erstenmal in Leningrad ("das hab ich schon begriffen", warf Malyschew ein), sie sei Ingenieurin ("Ich arbeite in einem Werk, in dem die Oberleitungsbusse gebaut werden"), sie sei sehr tierlieb ("Was ich zu Hause für einen Kater habe! Ein schöner, edler Athos!") und schätze intellektuelle Filme. Da fragte Malyschew vorsichtig, wer denn den edlen Kater versorge, der Ehegatte vielleicht. "Nein", antwortete Marina, mit den Mundwinkeln lächelnd, "meine kleine Tochter und meine Mutter".

"Wissen sie was", sagte Malyschew erfreut, "ich habe eine Idee. Wir erledigen jetzt alle Ihre Angelegenheiten, und dann gehen wir ins Kino. Hier auf Wassili-Insel gibt’s ein besonderes Kino, eins für Kenner. Heute wird "Rashomon" von Kurosawa gespielt. Danach lade ich Sie zum Abendessen ein. Ich bin zwar nicht begütert, aber für ein Abendessen reicht’s."

"Danke", antwortete Marina, "aber fünf vor halb zwölf geht mein Zug. Ich fahre noch heute zurück".

"Was? Schon?" brach es aus Malyschew heraus.

"Was soll ich machen", sagte Marina mit sichtlichem Bedauern, "es hat sich so ergeben. Ich habe ja nicht gewußt, daß ich Ihnen begegne."

"Na schön, dann fällt das Kino weg, und wir gehen gleich essen. Ich kann Sie ja nicht hungrig wegfahren lassen! Ich kenne ein wirklich gutes Restaurant mit dem romantischen Namen "Fregatte". Dort gibt es wunderbares Fleisch mit Pilzen und Sbiten mit Honig".

"Stellen Sie sich vor", sagte sie lachend, "ich bin hungrig wie ein Wolf. Denn die Pastete, die ich gegessen habe, als Sie mich beobachteten, das war alles, was ich heute gegessen habe."

"Sie haben gesehen, daß ich Sie beobachtete?" wunderte sich Malyschew.

"Natürlich! Wußten Sie nicht, daß wir Frauen auch am Hinterkopf Augen haben?"

Zu ihrem Glück war die "Fregatte" nicht stark besucht, und sie fanden rasch einen gemütlichen Tisch unter einer alten Landkarte von Karelien.

"Wie schade, daß Sie schon heute zurückfahren müssen", sagte Malyschew betrübt, ohne den Blick von Ihren eigenartigen Vogelaugen zu lassen. "Wann kommen Sie wieder?"

"Ich weiß nicht... vielleicht gar nicht. Ich bin nur zufällig hier; eigentlich sollte unser Laborleiter fahren, aber seine Frau ist krank geworden. Da haben sie mich gefragt, und ich habe zugegriffen - eine einmalige Gelegenheit, Leningrad zu sehen! Nun bin hier, aber gesehen habe ich nichts. Im Galopp durch die Eremitage", sagte sie lachend.

"Wissen Sie was?" sagte Malyschew plötzlich entschlossen. "Heiraten Sie mich!"

"Was? Sie sind ja verrückt!" Sie lehnte sich verblüfft zurück. "Sie kennen mich doch überhaupt nicht. Wollen Sie sich über mich lustig machen? Denken Sie, dieses Dummchen aus der Provinz fällt Ihnen vor Begeisterung um den Hals?"

"Nicht doch, Marina! Wie ist Ihr Vatersname? Franzewna? Nicht doch, Marina Franzewna! Ich mache mich nicht über Sie lustig, Gott behüte! Und ich denke nichts dergleichen. Hören Sie, ich habe mein Leben lang von einer Frau wie Ihnen geträumt. Ich habe von Ihnen geträumt! Sie sind mir im Traum erschienen, ich schwör’s Ihnen! Wissen Sie, man begegnet allen möglichen Menschen, allen möglichen Frauen, mit einigen schläft man und sogar mit großem Vergnügen. Man lebt gleichsam im Einklang mit sich selbst und seiner Umwelt. Man ist zufrieden und ausgeglichen. Und plötzlich... Bulgakow hat das wunderbar beschrieben: Die Liebe war so plötzlich da, wie ein Mörder in einer Gasse plötzlich vor einem steht... Ja? Ich weiß es... Ich weiß es genau... Es hat sich mir offenbart, verstehen Sie? Ich kann es noch nicht erklären, nicht einmal mir selbst. Aber ich weiß: Wenn wir uns jetzt trennen, ist das eine Katastrophe. Dann passiert etwas Schreckliches - die Harmonie der Welt bricht zusammen. Das ist doch von Gott gesandt! Man darf Gottes Gaben nicht mißachten! Sagen Sie ehrlich, ich gefalle Ihnen doch auch. Ich seh’s. Ich fühle es."

"Natürlich gefallen Sie mir, warum soll ich es leugnen. Aber..."

"Sagen Sie nichts mehr! Warten Sie! Sie haben genug gesagt. Kein "aber"! "

"Aber Alexander! Seien Sie doch vernünftig! Ich rede jetzt nicht von Gefühlen. Aber Sie kennen ja gar nicht meine Lebensumstände."

"Ach ja..." Malyschew ließ sofort den Kopf hängen. "Völlig klar! Daß ich darauf nicht gekommen bin - Sie haben jemanden. Das ist natürlich: Kann eine solche Frau denn allein sein?"

"Nicht doch! Darum geht’s überhaupt nicht! Ich habe auch niemanden. Es ist etwas anderes."

"Etwas anderes?" Malyschew stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, "was denn? Reden Sie."

"Ich kann nicht... Und überhaupt, was soll das? Hören Sie, Alexander... äh...äh..."

"Nikolajewitsch", sagte Malyschew mit gerunzelter Stirn.

"Ja, ja, danke. Nikolajewitsch... Alexander Nikolajewitsch, das ist doch lächerlich! Wir beide stecken doch nicht in einem Roman von Eliza Orzeszkowa. Sehen Sie sich um - das Zwanzigste Jahrhundert geht zu Ende, aber Sie scheinen dem Neunzehnten entsprungen zu sein, wirklich wahr. Das geht doch nicht, Sascha! Was sind das für romantische Phantastereien?"

"Und Sie sind Realistin, ja?"

"Leider. Frauen können es sich nicht leisten, nach ihren Gefühlen zu leben. Besonders alleinstehende Frauen."

"Leben Sie gut mit Ihrer Erdhaftung?"

"Nicht besonders." Marina schüttelte traurig den Kopf. "Aber dafür erleb ich nicht so viele Enttäuschungen. Doch Sie benehmen sich völlig egoistisch! Sie verdrehen mir den Kopf mit unsinnigen Bekenntnissen, aber kaum bin ich abgereist, so nach drei, vier Tagen... Es kümmert Sie nicht, daß ich mich an diesen Tag erinnern werde, daran denke..."

"Ihr Sbiten", blaffte die Kellnerin, die unvermittelt aufgetaucht war und zwei schwere derbe Tassen auf den Tisch stellte.

"Unsinn!" sagte Malyschew. "Sie haben nichts, gar nichts verstanden! Ich liebe Sie! Ja, ja, ich liebe Sie! Ich habe Sie immer geliebt. Ich bin doch Maler und habe Sie längst gemalt. Ich habe Sie gesehen - Ihre Augen, Ihre Hände, Ihre Bewegungen. Bleiben Sie, Marina! Ich flehe Sie an, fahren Sie nicht weg!"

"Aber das geht nicht", flüsterte Marina, "wie soll ich das zu Hause erklären? Und meine Mutter? Und meine Lenka? Wieso sind Sie plötzlich in mein Leben eingebrochen, Sie Verrückter?"

"Lieben Sie mich auch, Marinotschka!" Malyschew begriff, daß er nicht das Richtige sagte, daß ein ausgesprochener Gedanke Lüge ist, daß seine Worte nicht überzeugend klangen und sein Tonfall unecht. Er hörte sich gleichsam selber zu und war entsetzt, doch das Gefühl, das ihn aus heiterem Himmel ergriffen hatte, wuchs immer mehr und sprengte seine Seele, aber sowie es die Lippen erreichte, hüllte es sich in platte, abgedroschene, überflüssige Worte, die unabhängig von seinem Willen, ja, gegen seinen Willen aus seinem Kehlkopf drängten und auf den vollgestellten Tisch fielen, ohne ihr Ziel zu erreichen, sie ließen die Frau unbeeindruckt, die zu besitzen zur wichtigsten Aufgabe und zum Sinn seines Lebens geworden war. Er sah die Hoffnungslosigkeit seiner unsinnigen Aufwallung und verstummte resigniert. Lange saßen sie einander schweigend gegenüber.

"Essen Sie, es wird alles kalt", sagte er, "und verzeihen Sie mir."

Marina sah ihm in die Augen, legte ihre leichte Hand auf seine verschränkten, verkrampften Hände und sagte:

"Ich glaube Ihnen, Sascha... Aber lassen Sie mir bitte Zeit, mich an diesen Gedanken zu gewöhnen... Ich kann nicht so... schnell."

"Darf ich bitte Ihre Fahrkarte sehen?"

Er öffnete die Augen. Vor ihm stand ein junger, dunkel gekleideter Mann. In seiner Hand blinkte etwas. Malyschew, der sich mit allen Fasern noch in Leningrad befand, bekam einen Schreck, schämte sich aber sogleich seiner Angst - es war der Fahrkartenkontrolleur.

Meine verfluchte Vergangenheit! Sie hält mich fest, wie ein Tiger mit eingezogenen Krallen, dachte er und reichte dem jungen Mann die Fahrkarte.

"Daaanke", sagte der junge Mann im Singsang, knipste die Karte mit der Lochzange (deren Blinken Malyschew erschreckt hatte) und ging weiter.

Malyschew blickte aus dem Fenster. Der Zug verlangsamte die Fahrt, schlängelte sich vorsichtig durch die Straßen einer adretten Stadt und fuhr in den Bahnhof ein. Diese Stadt erinnerte entfernt an Amsterdam, und Malyschew mußte daran denken, wie er im letzten Jahr mit Marina nach Holland gefahren war. Sie hatte sich lange geweigert, wollte nicht mitfahren, wahrscheinlich ging in ihr schon damals etwas vor, aber er hatte ihr eine ganze Vorlesung über holländische Malerei gehalten und sie schließlich überredet. Widerstrebend fuhr sie mit, doch sie war während der ganzen Reise schlecht gelaunt, beschimpfte ihn aus jedem Anlaß, meist jedoch ohne Anlaß, ließ ihn im Hotel nicht an sich heran, wobei sie Unwohlsein vorschützte, und wiederholte die ganze Zeit, sie müsse nach Hause, weil eine wichtige Arbeit auf sie warte. Malyschew bemühte sich, geduldig zu sein, und gab weiblicher Launenhaftigkeit die Schuld. Doch eines Abends machte sie ihm eine hysterische Szene, und ihn bestürzte am meisten ihre kreischende Stimme, die plötzlich Markttöne annahm. Er hielt es nicht aus, schlug die Tür hinter sich zu und blieb die ganze Nacht weg.

Als er am Morgen zurückkam, war Marina völlig aufgelöst. Sie weinte, bat ihn um Verzeihung, sagte, daß er sie für solche Kleinigkeiten grausam bestrafe.

"Mein Mädchen", murmelte er und bedeckte ihr von Tränen salziges Gesicht mit Küssen, "erklär mir, was du hast, was überhaupt mit uns passiert."

"Alles ist gut, alles ist gut." Sie schluchzte noch, hatte aber schon wieder ihr hilfloses Lächeln, das er so wahnsinnig liebte, "wie schön, daß du zurückgekommen bist."

"Sag, liebst du mich?" fragte er und drückte ihren zierlichen Körper an sich.

"Ich hatte solche Angst, daß du mich hier allein zurückläßt."

Sie legten sich ins Bett, und es war einer der schönsten Tage seines Lebens.

Dann schlief Marina ein, Malyschew lag da, rauchte und dachte, wie glücklich er doch mit dieser kleinen Frau sei. Plötzlich fiel ihm ein, daß sie seine Frage nicht beantwortet hatte, und scheußliche Angst griff mit kalten Folterzangen nach seinem Herzen. Gott behüte! dachte er, Herr, laß es nicht zu! Ich kann ohne sie nicht leben!

...Andrej holte ihn vom Bahnhof ab. Beim Anblick seines Freundes spürte Malyschew, wie seine Atemnot etwas nachließ, wie sich die feste Haarschlinge, die seine Kehle einschnürte, ein wenig lockerte.

Im Auto sprachen sie nicht. Nur als Andrej vor dem Laden "Mini Mal" anhielt, fragte er lakonisch:

"Kognak? Wodka?"

"Egal", antwortete Malyschew und starrte vor sich hin.

Die Tür des Ladens tat sich lautlos auf und schloß, nachdem sie Andrej geschluckt hatte, genauso lautlos ihre durchsichtigen Kiefer.

...Marinas Geheimnis, das sie bei ihrer ersten Begegnung nicht preisgeben wollte, hatte sich als recht simpel erwiesen.

"Ich wollte dir nicht weh tun", sagte sie am nächsten Morgen, "ich habe begriffen, daß dir diese Nacht sehr viel bedeutet. Aber wir können nicht zusammen bleiben. Das tut mir sehr leid! Es war so schön mit dir!"

"Warum nicht?" fragte Malyschew und fühlte, wie es in seiner Brust plötzlich leer wurde.

"Sascha", Marina streichelte zärtlich sein Gesicht, "ich bin Deutsche, und wir reisen in die BRD aus. Alles ist entschieden, verstehst du? Ich kann nichts mehr ändern. Und ich will es auch nicht."

"Das ist alles? Das ist der einzige Grund?"

"Ja."

"Ich komme mit", sagte Malyschew nach einer Pause fest. "Ich kann nicht ohne dich leben."

"Was?" Seine Entschlossenheit erschütterte Marina. "Und deine Akademie, deine Studenten? Deine Aufträge? Du kannst doch nicht einfach alles hinschmeißen. Und überhaupt... Das ist unseriös. Für solch einen Entschluß braucht man Jahre, Jahrzehnte! Was denn, du willst dein geliebtes Leningrad aufgeben, deine geliebte Arbeit... Nein, das ist unseriös!"

Malyschew hielt ihr den Mund zu und flüsterte:

"Jetzt habe ich eine andere Geliebte. Und das ist sehr seriös."

Drei Wochen später kam Marina mit ihrer Tochter nach Leningrad - mit der bezaubernden, wunderhübschen Lenka. Dieses Wesen, diese kleine fünfjährige Frau war eine totale Wiederholung ihrer Mutter. Sie hatte das gleiche blasse Lächeln und machte unbewußt die gleichen Bewegungen wie Marina, wenn sie das schwere blonde Haar im Nacken hochnahm.

Malyschew schwamm im Glück und machte beiden den Hof. Er tat alles, was ein Mann tun kann und muß, um die Liebe einer Frau zu erringen. Und er mußte die Liebe von zwei Frauen erringen.

Einmal drückte Marina seinen Kopf an ihre Brust und sagte: "Mein Armer! Du mußt die ganze Zeit gegen die Strömung rudern. Ich bitte dich - hör nicht auf, laß nicht die Ruder los!"

...Malyschews Blick fiel auf den lustigen Clown, der am Autospiegel baumelte. Ja, dachte er, während er den Clown anschaute, der am Hals aufgehängt war, das ist der einzige Ausweg. Sicherlich ist es sehr schmerzhaft, aber es geht schnell. Ich kann doch nicht warten, bis das Herz von selbst zerspringt. Verwundert über seine Kaltblütigkeit und ein wenig erleichtert, weil er einen Entschluß gefaßt hatte, überlegte er, daß er am nächsten Tag, wenn Andrej zur Arbeit gegangen war, zu einem Baugeschäft fahren müsse, um eine dicke Schnur und einen Klappstuhl zu kaufen.

"Ich hab beides genommen", sagte Andrej und verstaute auf dem Rücksitz große Papiertüten, in denen es klirrte und raschelte.

"Was?" fragte Malyschew verdutzt.

"Kognak und Wodka. Und natürlich was zum Dazuessen", fügte er hinzu und setzte sich ans Lenkrad.

Um in den kleinen Unterwald zu gelangen, wo Andrej lebte, mußten sie durch ganz München fahren. Andrej versuchte, den Freund abzulenken, und zeigte ihm alle möglichen architektonischen Schönheiten. Aber die Pracht dieser schönen Stadt ließ Malyschew völlig kalt. Er war in seinen Kummer eingesponnen. Seine Seele konnte keine einzige Bewegung machen, kein Laut außer Marinas ständig klingender Stimme fand in seinem zerquälten Herzen Resonanz. Andrej sah in seine erstarrten Augen, und ihm blieb das Wort im Hals stecken. Schweigend fuhren sie weiter.

Malyschew erinnerte sich an das letzte Gespräch mit Marina. Heulend und ohne sich die Tränen abzuwischen. die ihr übers Gesicht liefen, hatte sie geschrien, daß sie ihn haßte, daß er ihr Leben kaputt mache, daß er alt und widerlich sei, daß sie nicht mehr sehen könne, wie er esse, daß das ganze letzte Jahr für sie eine einzige Qual gewesen sei, daß sie es ihm nicht habe sagen wollen, aber nun sei Schluß, es könne so nicht weitergehen, sie könne nicht länger mit zwei schlafen und zwei belügen. Dann beruhigte sie sich ganz plötzlich, sagte: "Schluß, ich gehe", und suchte in der Wohnung hastig irgendwelche Sachen zusammen. Malyschew, der in der Zimmerecke zusammengekauert auf einem Stuhl gesessen hatte, sah ihr schweigend zu.

"Lenusja", schrie Marina ins Kinderzimmer, "zieh dich an!"

"Wo willst du denn hin?" versuchte Malyschew sie aufzuhalten. "Mitten in der Nacht."

"Ich werde abgeholt", sagte sie schroff.

"Von wem?" fragte er dümmlich.

Diese Erinnerungen taten so weh, daß er mit den Zähnen knirschte.

"Laß gut sein, Alter", sagte Andrej, "jetzt trinken wir erst mal einen. Das kriegen wir schon wieder hin. Guck lieber, was für ein wunderbarer Wald."

Der Wald, durch den sie fuhren, war wirklich sehr schön.

Mittelrußland! Für einen Moment erwachte in Malyschew der Maler. Die Luft wie Topas... helle Birken und düstere Linden... Im Frühling duftet es hier bestimmt ganz irre. Der richtige Platz, um aus dem Leben zu gehen - von einem Paradies ins andere... "... daß die Wipfel dunkler Linden über mir dämmern und blühender Flieder sich wiegt".

"Andrej, ist es von hier weit bis zu deinem Haus?" fragte er.

"Wir sind gleich da, in zehn Minuten. Warum fragst du? Bist du müde?"

"Nein, nein! Es ist einfach wunderschön hier. Ich würde morgen gern hierher fahren, um ein paar Skizzen machen."

"Wunderbar", freute sich Andrej, "ich bin morgen sowieso den ganzen Tag auf Arbeit. Du nimmst meinen Wagen und fährst gemächlich. Ich erklär dir den Weg. Ist ganz einfach."

"Erklär’s mir", sagte Malyschew finster.

Eine halbe Stunde später saßen sie in Andrejs gemütlicher Küche. Andrejs Frau, die ernste Valetschka, deckte den Tisch und ging zu einer Nachbarin, denn sie fühlte, daß die Freunde allein sein wollten.

"Worauf trinken wir?" fragte Andrej, als er den appetitlich gluckernden "Absolut"-Wodka in dicke Kristallgläser goß.

"Auf deine Familie, auf deinen inneren Frieden..."

"Ach, von wegen Frieden", Andrej winkte ab, "ich hab hier meine eigenen Freuden."

Sie tranken. Dann schwiegen sie eine Weile.

"Nun erzähl", sagte Andrej und zündete sich eine Zigarette an.

"Was soll ich erzählen? Das Wichtigste hab ich dir schon gesagt."

"Erzähl von Anfang an."

"Von mir aus... Verstehst du, Ahdrjuscha, sie hat mich verkauft. Mit Haut und Haaren verkauft." Malyschew schenkte nach. "Und ich hab ihr dabei geholfen. Ich Idiot."

"Versteh ich nicht", sagte Andrej verwundert.

"Ich hab ihr doch Arbeit verschafft..."

"Das hast du richtig gemacht." Andrej nickte beifällig.

"Nein, falsch! Aber das hat sich erst später herausgestellt. Ich hätte sie zu Hause behalten müssen, da hätte sie mich wenigstens noch beachtet. Von Liebe rede ich schon gar nicht! Verstehst du, in Leningrad war ich ein bekannter Mann. In alle Ausstellungen, Präsentationen und Konzerte hab ich sie mitgeschleppt, und sie war stolz, meine Frau zu sein... Aber hier? Was bin ich hier? Ein armer Arbeitsloser! Außerdem bin ich zwanzig Jahre älter als sie. Wie meine Aussichten sind, kannst du dir denken... Wer braucht einen nicht mehr jungen Maler, wenn er nicht Chagall oder wenigstens Schemjakin ist.

Eines Tages sagte mir ein Hamburger Bekannter, daß in der Stadtverwaltung eine Stelle frei sei: in einem kleinen Konstruktionsbüro, wo Projekte für die Begrünung der Stadt oder den Verkehr ausgearbeitet werden, er wußte es auch nicht genau. Da habe ich Marina zugeredet, sich zu bewerben. Sie hat sich mit Händen und Füßen gesträubt, wollte nicht. Ich sagte ihr, du bist noch jung, willst du denn dein Leben lang Sozialhilfe kriegen? So eine Gelegenheit kommt vielleicht nie wieder. Ich hab sie überredet. Anfangs ist sie es ihr natürlich schwer gefallen - Probleme mit der Sprache, die neue Arbeit. Aber allmählich hat sie sich hineingefunden. Und ich hab ihr immer den Rücken gestärkt, hab gesagt, daß ich an sie glaube, daß sie mein kluges Mädchen sei, daß sie sich durchbeißen werde. So hab ich mir selber mein Grab geschaufelt. Trinken wir?"

"Na los", stimmte Andrej sofort zu.

Sie kippten gekonnt das Glas, aßen etwas Salat, und Malyschew fuhr fort:

"So ging das ungefähr ein halbes Jahr. Als ich eines Tages nach Hause kam, ich war mit Lenotschka spazierengegangen, lag auf dem Tisch ein Zettel: Ich war hier, ihr wart nicht da, ich mußte mir ein paar Klamotten holen. Ich fahre mit Kollegen für zwei Tage auf Dienstreise nach Schwerin. Langweilt euch nicht. Ich liebe und küsse euch und so weiter.

Mit diesem Tag fing alles an, Andrej. Überstunden bis in die Nacht, häufige Dienstreisen, seltsame Anrufe. Wenn sie von solchen Dienstreisen heimkam, legte sie sich in Lenkas Zimmer schlafen, sagte, sie sei erschöpft. Ich versuchte ein paarmal, mit ihr zu reden, aber sie lachte mich aus, sagte, ich sei ein übergeschnappter Othello und hätte mir Blödsinn ausgedacht. "Du hast ein Aua-Aua im Kopf", sagte sie, "du mußt dich behandeln lassen". Aber ich hatte schon alles begriffen, Andrej, ich wollte nur das unausweichliche Finale hinausschieben.

Gestern war es nun so weit. Was hat sie mir nicht alles an den Kopf geworfen! Mein Gott, Andrej, wenn du das gehört hättest! Daß ich ihr Leben verpfusche, daß sie noch jung sei und ihre Chancen bei Männern nutzen wolle, um vom Leben noch was zu haben, daß sie ihre Tochter aufziehen müsse, ich aber nichts verdiene und ihr zur Last falle, daß sie ein lustiges Leben wolle, ich aber ein Langweiler sei. Schließlich sagte sie, daß er es sei, der sie liebe und daß sie es satt habe, mit mir in diesem Stall zu leben (dabei haben wir eine sehr schöne neue Dreizimmerwohnung), und sobald sie zu ihm gezogen sei, werde er ihr einen neuen Wagen kaufen. Und sie würden nach London fahren und dann nach Madrid. Er habe dienstlich dort zu tun, und zugleich werde es auch ihre Hochzeitsreise sein. Und als ich fragte, ob er sie heiraten wolle, keifte sie, daß mich das gar nichts angehe und daß sie mich schon lange hasse und bloß nicht gewußt habe, wie sie mich loswerden solle.

So ist das", resümierte Malyschew.

"Ich kann mir vorstellen, wie du diese Frau haßt", murmelte Andrej und goß wieder ein.

"Nein, Andrej, das ist es ja gerade, ich liebe sie. Ich kann ohne sie nicht leben."

Die Freunden saßen bis tief in die Nacht am Tisch. Valetschka kehrte zurück, trank mit ihnen ein Glas und ging schlafen, doch sie blieben sitzen. Andrej versuchte Malyschew zu trösten, er sagte ihm Binsenwahrheiten und begriff, daß er seinem leidenden Freund nicht helfen konnte; wenn er in Malyschew kranke Augen, in sein fahles Gesicht sah, fühlte er, wie tief, ja, tödlich dieser verletzt war. Ihm schien, daß die graue Löwenmähne, die seinem Freund immer so gut stand, plötzlich ihre Eleganz verloren und sich in das graue Haar eines schlagartig gealterten Mannes verwandelt hatte. Er erinnerte sich, wie für ein verführerischer Lebemann Sascha in Leningrad gewesen war, wie die Frauen ihn, den Modemaler, umschwärmt hatten.

Malyschew sprach indessen ohne Pause, erinnerte sich an Handlungen Marinas, die er früher nicht verstanden hatte ("jetzt versteh ich. Mein Gott, wie einfach alles ist! Und ich habe ihr geglaubt! Als es besonders schwer war, habe ich sie gefragt: Marinotschka, vielleicht gibt es einen anderen Mann, sag’s mir, quäl mich nicht! Wie sie sich damals entrüstet hat! "Wie kannst du es wagen, so was auch nur zu denken!" schrie sie. Und mir wurde leichter. Dabei hat sie mich seit langem belogen!").

"Diese ganze grauenhafte Übersiedlung hat auf meinen Schultern gelegen. Hätte eine schwache Frau, noch dazu mit einem kleinen Kind und einer kranken Mutter, das bewältigen können? Diese Rennereien wegen der Visa, dieser Zoll, verdammt soll er sein! Und die kaum zu schleppenden Gepäckstücke... Und die Wohnung verkaufen! Diese Geschäftemacher, die um einen herumwieseln! Wären nicht meine Freunde gewesen, dann hätten sie Marina bis aufs Hemd ausgezogen und ihr die Wohnung weggenommen! Andrej, ich hab doch ihretwegen alles aufgegeben! Du weißt doch, dort war ich wer. Ich war Maler! Aber hier... Es gab keinen Tag, an dem ich ohne Geschenk nach Hause gekommen bin. Ich habe geknapst, gespart, beiseitegelegt, um Marina Blumen zu kaufen, besondere Strumpfhosen, Schmuck, teure Wäsche. Sie hat gelacht und gesagt: Das kaufst du für dich. Aber nun hat sich herausgestellt - nicht für mich hab ich’s gekauft, sondern für IHN!"

Malyschew war es schon egal, ob Andrej ihm zuhörte - mit schmerzverzerrtem Gesicht wiederholte er ein und dasselbe: Sie hat gelogen! Sie hat gelogen! Sie hat gelogen! Und plötzlich fing er an zu weinen. Das war so schrecklich, daß Andrej aufsprang und in die Zimmerecke lief. Im nächsten Moment stürzte er zu seinem Freund, packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn, wobei er durch die Zähne stieß:

"Hör auf! Hör sofort auf! Schäm dich was! Weil ein Weib dich verlassen hat! Du bist doch ein Mann! Es reicht!"

Malyschew schluchzte noch lange, dann beruhigte er sich allmählich. Andrej goß ihm Wodka ein und nötigte ihn zu trinken. Malyschew runzelte die Stirn, schluckte den warm gewordenen Wodka und sagte ganz ruhig:

"Andrej, du verstehst nicht. Mich hat nicht ein Weib verlassen - mich hat mein Leben verlassen."

Sie redeten noch lange und schliefen erst ein, als es schon hell wurde.

Er träumte von einer Frau. Sie war Marina überhaupt nicht ähnlich, aber er wußte genau, wer es war. "Was hast du bloß angerichtet?" sagte er zu dieser Frau. "Wie konntest du? Wir waren doch so glücklich! Jetzt tut mir das Atmen weh." "Macht nichts", antwortete die Frau, und in einem dunklerem Ton noch einmal: "Macht nichts!" Sie brach in ein tiefes Gelächter aus, das in einer entsetzlichen Männerstimme endete, dabei entblößte er seine blanken Hauer.

Malyschew wachte in der zweiten Tageshälfte auf. Er ging durch die leere Wohnung, fand den Autoschlüssel, eine kleine Karte, auf der Andrej mit Pfeilen den Weg zu dem Wald markiert hatte, und einen Zettel:

Früher in der Sowjetzeit

kannte man dich weit und breit,

aber hier im deutschen Land

bist du nur ein Emigrant.

Hast das Malen aufgegeben

und verflucht dein bitteres Leben.

Fahre lieber in den Wald

mit der Staffelei alsbald.

Hast du dann genug vom Klee,

komm zu deinem Freund Andrej!

Malyschew las das Verschen ohne zu lächeln, nahm die Schlüssel vom Tisch, steckte die Karte ein und verließ die Wohnung.

In einem Heimwerkerladen suchte er nörglerisch einen Strick aus, kaufte er weißes Klappstühlchen, saß dann lange im Auto, studierte die Karte und versuchte herauszufinden, wie er am schnellsten zu der Stelle gelangte, wo er sterben wollte.

"Den Wagen lasse ich am Weg stehen", murmelte er, während er auf die Chaussee lenkte, "da finden sie mich schneller, ich will ja dort nicht jahrelang hängen. Andrej ist natürlich nicht zu beneiden: Was für eine Freude, einen Selbstmörder zu beerdigen! Aber was hilft’s, ich habe keinen anderen Ausweg. Wenn nur bald alles zu Ende wäre!"

Nach in paar Minuten bog Malyschew von der Schnellstraße auf eine kleine Straße ab, fuhr unter einer Brücke durch und hielt vor einem Parkverbotsschild. Er dachte, daß die Polizei vielleicht Andrej ausfindig machen würde, noch bevor dieser Alarm schlug. Malyschew zwängte sich mühsam auf den Beifahrersitz und stieg rechts aus. Er warf die Tür zu, nachdem er beide Knöpfe heruntergedrückt hatte. Die Schlüssel blieben im Auto.

Der Tag ging zu Ende. Ein unangenehmer, trauriger Nebel bewegte sich unerbittlich auf den Wald zu, klammerte sich mit seinen ausgefransten Rändern an die Bäume. Es kühlte sich stark ab in der feuchten Luft. Malyschew ging eine Allee entlang, die mit modrigen Blättern übersät war. Der Nebel verdichtete sich derart, daß das Atmen schwer fiel.

Mein Herz ist nicht in Ordnung, dachte Malyschew, ich muß zum Arzt gehen.

Er bog von der Allee ab und ging bergan. Der Wald wurde dichter, und Malyschew mußte sich durch stacheliges Gesträuch zwängen. Nach einer halben Stunde großer Anstrengung war er völlig erschöpft und konnte kaum noch die Füße setzen. Endlich kam er auf eine Lichtung.

"So", sagte er, "ich bin da."

Mitten auf der Lichtung stand ein riesiger Baum. Mit der Strenge seiner fast konischen Form erinnerte er an einen Obelisken. Seine Krone war in den Nebelfetzen kaum zu sehen. In einer Höhe von etwa drei Metern hing fast senkrecht ein dicker, vor langer Zeit angebrochener schwarzer Ast herunter - Zeuge und Opfer eines Shakespeareschen Sturms.

Aus Furcht, die Entschlossenheit zu verlieren, zog Malyschew rasch das hübsch verpackte Seil aus der Plastiktüte, wickelte es auseinander und knüpfte mit einer Geschicklichkeit, die ihn selbst erstaunte, einen beweglichen Knoten. Als ob ich mich nicht zum ersten Mal aufhänge, dachte er. Er stellte das weiße Plastikstühlchen an den Baum. Unbeholfen balancierend, kletterte er hinauf. Es war gar nicht einfach, daß Gleichgewicht zu halten, dann die Stuhlbeine sanken unter dem Gewicht seines Körpers ungleichmäßig in den feuchten Boden ein. Malyschew umfaßte mit beiden Armen den kalten dicken Stamm und erstarrte in dieser Haltung. Er hatte direkt vor seinen Augen ein altes Signum bemerkt: In die Rinde waren vier Zeichen eingeschnitten - ein lateinisches C, dann ein A, drei Längsstriche und wieder ein A. Das soll ein Wald sein, dachte er verächtlich, bei denen ist jeder Baum registriert. Er versuchte, den Strick mit der Schlinge über einen Ast zu werfen, aber es gelang ihm nicht. Er machte einen zweiten Versuch, einen dritten... Das Signum flimmerte vor seinen Augen. Und da plötzlich begriff er, daß es kein lateinisches C und keine Längsstriche waren - es war sein Vorname! Hier hatte jemand seinen Vornamen eingeschnitten - SASCHA! Auf russisch! Er betastete den Stamm. Über dem Namen stand noch etwas, aber er konnte es nicht entziffern. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, hielt sich an dem Stamm fest, legte den Kopf in den Nacken und las: ICH BIN ALS EINZIGER ÜBRIG. LEB WOHL MARINA. SASCHA. Weiter unten noch einmal SASCHA. Und das Datum - JUNI 1943. Malyschew fiel ein, daß ihm Andrej gestern erzählt hatte, während des Krieges sei hier in der Nähe ein Konzentrationslager gewesen. Er umfaßte wieder den Stamm mit beiden Armen und schmiegte sich mit dem ganzen Körper an ihn. Vor dreiundfünfzig Jahren war hier, an dieser Stelle, ein ihm unbekannter Sascha gestorben, der auch seine Marina geliebt hatte. Er hat diese Worte im Liegen eingeritzt, dachte Malyschew, der Baum ist in den fünfzig Jahren eben so gewachsen. Er ist an Hunger, Angst und Erniedrigung gestorben. Man hat ihm sein von Gott geschenktes Leben genommen, und er hat sich widersetzt, so gut er konnte. Vielleicht war Marina gar nicht mehr auf der Welt, aber er liebte sie noch immer und setzte seine letzten Kräfte ein, um sich von ihr zu verabschieden. Was für eine Verzweiflung! Er hat doch gewußt, daß seine Marina diese Schrift niemals lesen würde!

Malyschew blickte sich um. Er wunderte sich nicht, als sich im Nebel die Silhouette eines Wachturms abzeichnete. In der dumpfen Stille war entferntes Hundegebell zu hören. In der Ferne schwebten zwischen den Bäumen wie in Zeitlupenaufnahme zwei verschwommene Gestalten in gestreifter Lagerkleidung.

Er wollte nicht sterben, sagte Malyschew zu sich, er wollte nicht! Er wurde gezwungen. Aber er wollte nicht, trotz allem!

Er spürte, wie sich in seiner Seele zaghaft Scham regte. Wie eine Frau, die die erste Bewegung ihres Kindes im Leibe fühlt, horchte er sich hinein. Dann sprang er schwerfällig von dem Stuhl, klappte ihn zusammen, wickelte den Strick auf und ging zurück zu seinem Freund, zum Leben.

Er ging, mit den Füßen im herbstlich bunten Waldparkett einsinkend, und wiederholte, sich selbst nicht glaubend: "Man muß leben, man muß leben, man muß leben, man muß leben, man muß leben............................."

Hannover, Dezember 1996

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